Manuskripte 2023

Kirchentag in Nürnberg

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Sperrfrist
Do, 08. Juni 2023, 15.00 Uhr

Do
15.00–17.00
Dolmetschung ins Englische
Hauptpodien | Hauptpodium
Ein Ruf aus der Zukunft
Stimmen aus (Ost)Europa
Prof. Dr. Herfried Münkler, Politikwissenschaftler, Berlin

1.

Es ist ein weiter Weg, den die deutsche Politik vom Ende Februar 2022 bis heute zurückgelegt hat, von dem Unterstützungsangebot der 5.000 Helme bis zur Lieferung von Kampfpanzern und Flugabwehrraketen, von der dogmatischen Festlegung, keine Waffen in Krisen- und Kriegsgebiete liefern zu wollen, bis zum zweitwichtigsten Unterstützer der Ukraine nicht nur in finanzieller und wirtschaftlicher, sondern auch in militärischer Hinsicht. Jeder Schritt, der auf diesem Weg getan wurde, war und ist nach wie vor umstritten, politisch wie moralisch. Im Rückblick kann man sagen, dass die „Zeitenwende“, von der Kanzler Scholz schon bald nach Beginn des russischen Angriffskriegs gesprochen hat, keineswegs hurrapatriotisch, sondern vorsichtig und nachdenklich vollzogen worden ist. Einigen ging sie deswegen nicht schnell genug, andere lehnten sie grundsätzlich ab, und einige von ihnen sind bis heute bei der grundsätzlichen Ablehnung einer militärischen Unterstützung der Ukraine geblieben. 

Es ist ein Wesensmerkmal liberaler Demokratien, dass sie sich – im Unterschied zu autoritär-autokratischen Regimen – ein solches Beratschlagen auch unter dem Zeitdruck äußerer Zwänge leisten. Zu dieser Feststellung gehört freilich auch die Beobachtung, dass wir uns dieses Beratschlagen nur leisten konnten infolge des unerwartet effektiven Widerstands der ukrainischen Soldaten gegen die russischen Angreifer. Wäre den russischen Truppen ein schneller, binnen zwei Wochen erfolgreicher Enthauptungsschlag gelungen, wie ihn die Kremlführung geplant hatte, wären die deutschen Debatten eine melancholische Reminiszenz an die Wünsche und Hoffnungen der 1990er bis 2010er Jahre gewesen, eine kollektive Selbstprüfung ohne politische Relevanz, ein Lamentieren über verpasste Herausforderungen. Pointiert: es war der Heroismus der Ukrainer, der uns den Luxus einer eingehenden und abwägenden Debatte über effektive Waffenhilfe oder politisches Beiseitestehen erst verschafft hat. Das ist der performative Selbstwiderspruch derer, die gegen eine militärische Unterstützung der Ukraine waren und sind: dass das Gegenteil des von ihnen Geforderten die Bedingung der Möglichkeit dafür war, dass ihre Forderungen nach wie vor politische Relevanz haben.

2.

Was wir in den zurückliegenden eineinhalb Jahren erfahren haben – ob wir es auch gelernt haben, wird sich noch zeigen müssen – ist, dass dogmatische Vorabfestlegungen politisch sehr viel problematischer sind, als die meisten geglaubt haben: von dem Postulat „Keine Waffen in Krisen- und Kriegsgebiete“ bis hin zu der Vorstellung, die internationale Politik lasse sich weithin juridifizieren und bei Zuwiderhandlungen gegen Verträge und Abmachungen genüge wirtschaftliche Macht, also Handelssanktionen, um den Regelbrecher wieder auf die rechte Bahn zu bringen. Die westlichen Politiker, die Putin vor dem Angriffsbefehl im Kreml aufsuchten und ihn davon zu überzeugen suchten, es bei einem Manöver seiner Truppen nahe der ukrainischen Grenze zu belassen und keinen Krieg zu beginnen, dürften mit ökonomischen Kosten-Nutzen-Kalkülen argumentiert haben. Sie sind davon ausgegangen, dass es sich bei Putin um einen rationalen Nutzenmaximierer, einen homo oeconomicus im sozialwissenschaftlichen Sinn handele. Sie haben die Macht des Ressentiments unterschätzt, die politische Relevanz von Groll im Sinne heruntergeschluckter und damit auf Dauer gestellter Wut und Zorn, gleichgültig, ob dieses Ressentiment nun aus Demütigungen Russlands durch den Westen oder durch den Zerfall der Sowjetunion und den damit verbundenen weltpolitischen Einflussverlust resultierte. Das Ressentiment wischte die Kosten-Nutzen-Rationalität beiseite. Der Kreml setzte darauf, dass Russland wieder ein Imperium werden könne, das es in Sowjetzeiten und während des Zarenreichs seit Peter dem Großen einmal war – koste es was es wolle.

Offenbar sind normativ geprägte Festlegungen der Politik sehr viel stärker von Rahmenbedingungen und Zeitumständen abhängig, als jene wahrhaben wollen, die ihnen eine prinzipielle Geltung zusprechen. Oder anders formuliert: Es kommt darauf an, mit wem man es zu tun hat. Die Theorien des Friedens beruhen auf Vorannahmen, die keineswegs als selbstverständlich gegeben anzusehen sind, und die operative Politik ist von Konstellationen abhängig, die sich verändern können. Heißt: Was gestern durchaus richtig war, kann heute falsch sein. Die Ersetzung militärischer durch wirtschaftliche Macht als Steuerungsmedium der internationalen Politik ist davon abhängig, dass alle relevanten Akteure – also die großen Mächte – rationale Nutzenmaximierer sind und keiner dabei ist, für den das Ressentiment eine größere Rolle spielt als der Nutzen. Die politischen Perspektiven einer territorial saturierten Sowjetunion waren nun einmal andere als die eines revisionistischen Russlands, das darauf aus ist, die Ergebnisse des Zerfalls der Sowjetunion rückgängig zu machen. Die Dogmatiker einer normativen Einhegung der Politik haben das außer Acht gelassen, und dementsprechend sind sie von Putin düpiert worden. Weil sie das nicht eingestehen wollen, halten sie um so erbitterter an ihren Festlegungen fest.

Selbstverständlich lässt sich aus der Geschichte lernen, aber die Voraussetzung richtigen Lernens ist, dass man sich über die Vor- und Rahmenbedingungen des Gelernten im Klaren ist. Lernen heißt nicht eo ipso, dass man auch das Richtige lernt. Gerade die deutsche Geschichte ist ein Trümmerhaufen falschen Lernens. Politisches Lernen ist ein reflexives Lernen, und das funktioniert grundlegend anders als die Aufstellung von Dogmen. Dogmatiker in der Politik sind die, denen die permanente Reflexion der Lernergebnisse zu anstrengend und zu mühselig ist. Im Prinzip verweigern sie sich dem Prozess des gemeinsamen Beratschlagens, weil sie von vornherein wissen, was richtig und falsch ist.

3.

Blicken wir zur Überprüfung dessen einen Augenblick in die Geschichte zurück und simulieren das, was die Überschrift des Panels uns abverlangt: Einen Ruf aus der Zukunft: Gehen wir in die europäischen Schicksalsjahre 1938/39 und konzentrieren uns auf einen spezifischen Umgang mit revisionistischen Mächten, dem Appeasement, der Akzeptanz von Forderungen eines Revisionisten zum Zwecke seiner Befriedung. Appeasement ist in zweifacher Hinsicht ambivalent: zunächst im Hinblick auf den zu Befriedenden, denn er kann das Entgegenkommen als Erfüllung seiner Forderungen ansehen und zu einer tragenden Macht der gemäß seinen Forderungen revidierten Ordnung werden – oder er wird durch das Entgegenkommen noch gieriger und stellt neue, weitergehende Forderungen auf. Und sodann im Hinblick auf die Akteure der Befriedung, die ihr Entgegenkommen als dauerhafte Sicherung des Friedens begreifen können, aber ebenso als ein bloßes Kaufen von Zeit, in der sie sich auf einen wahrscheinlichen Krieg einstellen können – und aufrüsten. Entscheidend sind die Annahmen, die sie bezüglich des Revisionisten haben. Man kann das auf das Münchner Abkommen vom Herbst 1938 beziehen, die Abtretung des 1919 tschechoslowakisch gewordenen Sudetenlandes ans Deutsche Reich. Bekanntlich war Hitler nicht saturiert, sondern ist im Frühjahr 1939 in die so genannte Rest-Tschechei einmarschiert und hat sie in ein deutsches Protektorat verwandelt, und im August 1939 hat er das in München erfolgreiche Spiel mit Danzig und dem polnischen Korridor zu wiederholen versucht. Der britische Premier Chamberlain wiederum hat sich getäuscht, sollte er tatsächlich geglaubt haben, wie er erklärte, er habe „den Frieden für unsere Zeit“ gerettet, aber er hat dadurch Zeit zur Aufrüstung Großbritanniens gewonnen, ohne die das Land die Luftschlacht über England im Sommer 1940 schwerlich gewonnen hätte.

Auf die Appeasement-Komponente der Minsker Abkommen vom September 2014 und Februar 2015 bezogen mit denen der Krieg in der Ostukraine befriedet werden solle: Putin ist durch das europäische Entgegenkommen nicht pazifiziert worden, aber die Ukraine hat die gekaufte Zeit nutzen können, um ihre militärische Fähigkeit so zu stärken, dass sie im Februar und März 2022 hinreichten, um die russische Strategie einer schnellen Niederwerfung scheitern zu lassen. Appeasement ist ein riskantes Instrument der operativen Politik und kein Allheilmittel des Friedens. Wie es jeweils wirkt, hängt von den Umständen und den Akteuren ab. In München und Minsk hat der Revisionist das Entgegenkommen für Schwäche gehalten und daraus geschlussfolgert, er könne noch weiter gehen.

4.

Was heißt das für den prospektiven Verlauf des Krieges in der Ukraine und die Chancen seiner Beendigung? Der Krieg in der Ukraine ist inzwischen zu einem Erschöpfungskrieg geworden, der auf drei Ebenen geführt wird: an der Front russischerseits mit dem Ziel eines Aufzehrens der ukrainischen Kräfte, wobei der russische Generalstab davon ausgeht, die eigenen Ressourcen seien um ein Vielfaches größer als die der Ukraine. Diese Rechnung sucht der Westen durch Waffen- und Munitionslieferungen zu konterkarieren. Sodann, ebenfalls russischerseits, in Form der Angriffe auf ukrainische Wohngebiete und Infrastruktur mit dem Ziel, so den Widerstandswillen der ukrainischen Bevölkerung zu brechen. Und schließlich, hier liegt die Initiative auf Seiten des Westens, in Form von Sanktionen gegen die russische Wirtschaft, um deren Fähigkeit zur Waffenproduktion und zur Finanzierung des Krieges zu schwächen und die politische Unterstützung für Putin mit der Zeit zu ermatten. Es ist das Wesen von Erschöpfungskriegen, dass die – im Unterschied zu Niederwerfungskriegen – eher lange dauern und dass in ihnen die Aufnahme von Verhandlungen nicht das Ende der Kampfhandlungen bedeutet, sondern dass Kämpfen und Verhandeln komplementäre Formen der Erschöpfung sind. Das lässt sich an der Geschichte von Kriegsverläufen gut erkennen – was jene übersehen, die in „Offenen Briefen“ die Aufnahme von Verhandlungen zwecks Beendigung des Krieges fordern. In Erschöpfungskriegen sind Verhandlungen eine Führung des Krieges mit anderen Mitteln, um Clausewitz zu variieren.

So oder so müssen wir uns also auf einen langen Krieg einstellen, bei dem der Westen konsequent die Durchhaltefähigkeit der ukrainischen Streitkräfte sicherstellen muss, um einen russischen Erfolg der Erschöpfungsstrategie an der Front zu verhindern. Um eine Eskalation des Krieges zu vermeiden, hat der Westen bei den Waffen- und Munitionslieferungen den Ukrainern freilich eine Hand auf den Rücken gebunden, indem er den Einsatz dieser Waffen gegen russisches Territorium untersagt hat. Während die russische Seite fortgesetzt ukrainische Infrastruktur angreift, ist dies den Ukrainern im Hinblick auf russisches Gebiet untersagt. Wir haben es also mit einem partiell asymmetrischen Krieg zu tun. Für dieses Verbot des Einsatzes westlicher Waffen gegen russisches Staatsgebiet gibt es aus europäischer Sicht eine Reihe guter Gründe: Man will eine Eskalation des Krieges verhindern, insofern man es im Falle Russlands mit einer Atommacht zu tun hat, und man orchestriert darum die Waffenlieferungen mit vertrauensbildenden Maßnahmen, die sicherstellen sollen, dass der Kreml den Westen nicht nur als Gegner, sondern auch als potentiellen Verhandlungspartner ansieht. Waffenlieferung ist also nicht gleich Waffenlieferung, sondern es kann sich dabei auch um eine Intervention mit politischen Signalen handeln: Erstens: Russland kann den Erschöpfungskrieg nicht gewinnen, weil der Westen die Ukraine über Wasser hält. Zweitens: die gelieferten Waffen haben nicht den Zweck, zu einem militärischen Desaster Russlands zu führen, sondern sollen es zur Aufgabe seiner Revisionspolitik zwingen.

5.

Was wären die Alternativen? Keine Waffenlieferungen an die Ukraine, was, wenn dies nicht ein deutscher Alleingang wäre, sondern gemeinsame Politik des Westens, zum Zusammenbruch der Ukraine binnen Wochen führen würde und von der russischen Führung als ein großer Sieg ausgelegt werden könnte, der zur Fortsetzung der Revisionspolitik ermuntert: im Kaukasus, im Baltikum, auf dem Balkan und wohl auch in Zentralasien, dort vermutlich in Abstimmung mit China. Das ist eine alles andre als verlockende Perspektive: die Beendigung eines Krieges um den Preis des Aufflammens vieler Kriege. Und als Gegenteil der Einstellung von Waffenlieferungen deren Erweiterung bis hin zu einer direkten Involvierung des Westens in den Krieg, was auf den Einstieg in eine Eskalationsspirale ohne Ende hinauslaufen dürfte. Ebenfalls alles andre als eine verlockende Aussicht. Insofern wird es bei der Formel bleiben, dass die Ukraine diesen Krieg nicht verlieren darf. Im günstigsten Fall kommt es zu einem Waffenstillstand, der von den großen Mächten garantiert werden muss. Da wird auch Deutschland als Garantiemacht dabei sein. Die Aussicht auf einen wirklich stabilen Frieden halte ich auf Jahre hinaus für illusionär, weil dies für beide Seiten auf das Eingeständnis hinauslaufen würde, dass man seine Ziele nicht erreicht hat und die dafür erbrachten Opfer vergeblich waren. Das würde keine der beiden Seiten innenpolitisch verkraften.

Gleichwohl noch einmal gefragt: Warum sollten wir, der Westen, die europäische, die deutsche Politik, uns davor hüten, dahingehend auf die Ukraine Einfluss zu nehmen, in einen Frieden zu gemäßigten Bedingungen Russlands einzuwilligen? Einzuwilligen, um des Friedens willen und mit Blick auf die Vielen, die bei einem Fortgang der Kampfhandlungen den Tod finden oder schwere Verwundungen erleiden werden, wie von Seiten der Friedensbewegung argumentiert wird? Ginge es nur um die Neuziehung der Grenze zwischen der Ukraine und Russland könnte man das vielleicht ins Auge fassen, freilich dann mit starken westlichen Sicherheitsgarantien für die Unverletzlichkeit dieser Grenze, nachdem die Ukraine mit solchen Garantien – siehe Budapester Memorandum – schlechte Erfahrungen gemacht hat. Ja, man könnte darüber nachdenken, wenn es nur um die Neuziehung der russisch-ukrainischen Grenze ginge. Das Problem ist indes, dass wir es vom Westbalkan bis zum Kaukasus, von der ukrainischen Nordgrenze bis zur südlichen Grenze der Türkei und darüber hinaus mit einem Raum zu tun haben, der bis 1918 von drei multinationalen, multilingualen und multikonfessionellen Großreichen beherrscht wurde – dem Reich der Zaren, dem Osmanenreich und der Donaumonarchie –, ja dem es nicht gelungen ist, eine stabile Ordnung von Nationalstaaten einzuführen und in dem eine ganze Reihe von revisionistischen Akteuren beheimatet sind: die Türkei seit Beginn von Erdoğans neoosmanischer Politik, Serbien, der Verlierer der jugoslawischen Zerfallskriege, das Teile Bosniens und des Kosovo zurückhaben will, und auch Ungarn, weil seit dem Vertrag von Trianon 40 Prozent der ethnischen Ungarn nicht innerhalb des ungarischen Staates leben. Wird hier durch die Einwilligung in Grenzverschiebungen eine Tür aufgemacht, so ist damit zu rechnen, dass viele durch diese Tür hindurchwollen und der Raum ums Schwarze Meer mitsamt Balkan in Kriegen versinkt. Der Wunsch nach einem schnellen Frieden in der Ukraine könnte dann zum Türöffner für viele Kriege werden. Selten hat der Satz, der Weg in die Hölle sei mit guten Vorsätzen gepflastert, politisch größere Plausibilität besessen als hier. Nicht die guten Absichten, sondern das Durchdenken von Folgen ist hier gefordert.


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